„So viel Glück muss man erst mal verkraften“

Mascha Schilinski, wie haben Sie von der Einladung Ihres Films in den glamourösen Wettbewerb von Cannes erfahren?
Kurz vor Weihnachten und per Mail! Zeitgleich rief mich auch schon meine freudeschreiende Produzentin Maren Schmitt an. Wir konnten es gar nicht fassen und haben immer wieder diese E-Mail gelesen und überlegt, ob „Official Selection. Competition“ wirklich der Wettbewerb um die Goldenen Palme ist oder sich doch noch eine ganz andere Sektion dahinter verbirgt. Erst einen Tag zuvor hatten wir in Cannes nachgefragt, wann eine Entscheidung fallen würde. Dort hieß es: Geduldet Euch! Die Sichtungsjury war schon beinahe in die Feiertage entschwunden. Und dann kam doch noch die frohe Botschaft, dass unser Film „In die Sonne schauen“ nominiert ist.
Wann waren Sie sich denn sicher, dass Sie wirklich dabei sind?
Zwischendurch saß ich zu Hause und habe mich gefragt, ob ich mir das alles womöglich einbilde. Die Teilnahme musste ja über Monate streng geheim bleiben. Gleichzeitig waren aber schon Gerüchte im Umlauf. Ich konnte meine Freude also mit niemandem teilen, nicht einmal mit meinem Schauspielteam. Ich durfte nichts bestätigen.
Worauf in Cannes freuen Sie sich am meisten?
Das Schönste ist, dass wir alle vor Ort sein werden und den Film erstmals gemeinsam vor Publikum auf einer großen Leinwand schauen. Auf diesen Moment freue ich mich sehr und bin zugleich sehr aufgeregt. Und vielleicht finde ich ja sogar noch Zeit, ein paar andere Filme zu sehen. Wo laufen schon mal so viele Weltpremieren! Allerdings wurde mir bereits gesagt, dass mein Terminkalender unglaublich voll sein würde. Ich bin zum ersten Mal bei dem Festival.

Mascha Schilinski über "In die Sonne schauen": "Der Film funktioniert wie ein assoziativer Bilderstrom, der die Erinnerungsfragmente aller Figuren auf dem Hof miteinander verbindet."
Quelle: Neue Visionen Filmverleih
Haben Sie schon bei alten Cannes-Veteranen nachgefragt, welches Spektakel da auf Sie zukommt?
Tatsächlich war Fatih Akin einer der Ersten, der mir eine Mail geschrieben und mir gratuliert hat. Er hat mir den Tipp gegeben, das alles zu genießen. Und das werde ich jetzt tun. Ich hoffe, dass ich Fatih Akin in Cannes treffe (Akins Film „Amrum“ läuft in einer Nebenreihe, d. Red.).
Wie groß ist der Druck, gegen Regieprominenz von Jafar Panahi bis Wes Anderson im Rennen um die goldene Palme anzutreten?
Das ist überhaupt kein Druck. Wir haben schon gewonnen, weil wir dort sind. Ich freue mich ganz einfach. Der Film hat es verdient, gesehen zu werden. Und es ist toll, dass das jetzt vor einem weltweiten Publikum passiert.
Fühlen Sie eine besondere Verantwortung, weil Sie in Cannes sinnbildlich die deutsche Kinofahne schwenken?
Ich denke, dass sich die ganze deutsche Kinobranche mit uns freut. So oft schafft es ein deutscher Film ja nicht in den Wettbewerb von Cannes. (zuletzt war Wim Wenders mit dem in Japan gedrehten Film „Perfect Days“ über einen Toilettenputzer in Tokio dabei, d. Red.)
Ihr Kinodebüt „Die Tochter“ lief 2017 auf der Berlinale: Warum haben Sie sich mit Ihrem Film nicht für das wichtigste deutsche Festival beworben?
Wir haben den Film gleichzeitig bei allen drei A-Festivals eingereicht, also in Berlin, Venedig und Cannes. Dann haben wir geschaut, was passiert. Cannes hat sich gemeldet, und die Freude war groß.
Bis zur Weltpremiere ist Ihr Film streng geheim. Was erwartet das Publikum?
„In die Sonne schauen“ erzählt von vier Mädchen, die zu unterschiedlichen Zeiten über den Zeitraum eines Jahrhunderts hinweg auf demselben Hof in der ländlichen Altmark aufwachsen. Obwohl durch die Zeit voneinander getrennt, beginnen sich die Leben der Mädchen gegenseitig zu spiegeln. Der Film ist kein Familien- oder Historiendrama. Ich würde ihn überhaupt nicht einem bestimmten Genre zuordnen. Er funktioniert wie ein assoziativer Bilderstrom, der die Erinnerungsfragmente aller Figuren auf dem Hof miteinander verbindet. Bruchstücke, die sich zu einem eigentlich unmöglichen Zeugnis einer kollektiven Erfahrung formen.
Sehen Sie eine Verbindung zu Ihrem Kinodebüt „Die Tochter“?
Ja, auch hier ist es wieder der kindliche Blick, der mich fasziniert. Kinder haben diese halluzinative Kraft, Leerstellen aufzuspüren und wahrzunehmen, für die es keine Worte gibt. Sie blicken ohne vorgefertigte Konzepte auf die Welt.
Cannes und die Deutschen: Das ist eine komplizierte Geschichte. Nur wenige deutsche Regisseure wie Fatih Akin (aktuell in einer Festivalnebenreihe mit "Amrum" dabei) zählen dort zu den Stammgästen. In so manchem Jahr dürfen Deutsche nur zuschauen, wie sich die internationale Autorenelite trifft. Das gilt erst recht für Frauen hinter der Kamera, die es in der Männerdomäne Cannes besonders schwer haben. Vom 13. bis 23. Mai ist das in diesem Jahr ein wenig anders: Dass Mascha Schilinski mit ihrem erst zweiten Kinospielfilm "In die Sonne schauen" für den Wettbewerb nominiert wurde, ist eine kleine Sensation. Im Rennen um die Goldene Palme bekommt sie es zu tun mit namhafter Konkurrenz wie Julia Ducournau, Richard Linklater, Wes Anderson, Kelly Reichardt, die Dardenne-Brüder, Sergei Loznitsa und Jafar Panahi. In der Welt des Kinos fühlt sich Mascha Schilinski seit Kindertagen zu Hause: Die 41-Jährige ist die Tochter einer Filmemacherin. Schon als Schülerin übernahm sie Rollen in Kino und Fernsehen. Nach dem Abitur ließ sie sich den Wind um die Nase wehen - als Zauberin und Feuertänzerin bei einem kleinen italienischen Wanderzirkus. Ihr Berufsziel verlor Schilinski dabei nie aus den Augen: Sie absolvierte diverse Praktika in der Filmbranche, drehte Werbeclips und studierte szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg. Schon mit ihrem Kinodebüt "Tochter" mit Helena Zengel schaffte sie es zur Berlinale. "In die Sonne schauen" startet in Deutschland am 11. September in den Kinos. Dann dürfte die Regisseurin international schon bestens bekannt sein.
Interessieren Sie sich besonders fürs Psychologische?
Nein, ich interessiere mich vor allem fürs Atmosphärische, zum Beispiel dafür, was für ein Gefühl in einem entsteht, wenn man einen Raum betritt und wahrnimmt, wie sich die Menschen dort verhalten und wie sie reagieren. An die genauen Worte von Menschen kann man sich meistens irgendwann nicht mehr erinnern, aber immer an das Gefühl, das sie in einem ausgelöst haben. „In die Sonne schauen“ hat eher einen physischen Ansatz: Der Film setzt sich mit Körpererinnerungen auseinander. Man darf im Kino gern dem Rat des französischen Filmemachers Robert Bresson folgen, den Film zu fühlen, bevor man versucht, ihn zu verstehen.
Ihre Mutter ist ebenfalls Regisseurin: Wurde Ihnen das Filmemachen gewissermaßen in die Wiege gelegt?
So würde ich das nicht nennen. Mein Vater ist Franzose und Bauarbeiter. Eigentlich ist er aber der heimliche Cineast in unserer Familie. Er hat unfassbar viele Filme geschaut. Wir haben zu Hause viel über Kino gesprochen. Wenn meine Mutter am Set gearbeitet hat und es gerade keinen Babysitter gab, dann hat sie mich einfachheitshalber mitgenommen. Aber ich bin nun nicht am Filmset groß geworden.
Das Festival von Cannes startet am 13. Mai: Gibt es in Ihrem Leben momentan Wichtigeres als Kino?
Ich bin Anfang des Jahres Mutter geworden. Die Einladung nach Cannes ist quasi gleichzeitig passiert. So viel Glück muss man erst mal verkraften.
Arbeiten Sie schon an einer ausgetüftelten Infrastruktur für Cannes, die es Ihnen ermöglicht, Ihre zahlreichen Aufgaben als Wettbewerbsregisseurin und die als Mutter zu verbinden?
Ich werde wohl die gesamten zwölf Tage vor Ort sein. Und, ja, wir sind gut aufgestellt. Ich habe Verwandtschaft in Nizza, die nach Cannes herüberkommt und auf den Kleinen aufpasst. Das betrifft vor allem die Weltpremiere. Denn der Papa sitzt auch im Kinosaal, er ist der Kameramann des Films. Ansonsten hält er mir den Rücken frei.
Könnte es passieren, dass Sie während der Premiere im voll besetzten Kino Lumière ihr Kind in den Armen schaukeln?
Das ergäbe auf die Dauer eine seltsame Geräuschkulisse. Nein, um das Baby wird sich während der Premiere meine Familie kümmern.
rnd